Schon Alzheimer oder nur vergesslich? Woran erkenne ich Demenz und was ist dann zu tun?
Ist die Vergesslichkeit noch normal oder schon ein Anzeichen für eine beginnende Demenz?
Was sind ernstzunehmende Anzeichen für eine Alzheimer-Erkrankung?
Wo kann man abklären lassen, ob es sich um eine Demenz handelt?
Was ist zu tun, wenn sich der Demenz-Verdacht bestätigt? Wo gibt es Hilfen für Menschen mit Demenz?
Diese und weitere Fragen beantwortet der Dipl. Gerontologe Dr. Jörg Hinner im Interview.
Petra Weber: Was versteht man überhaupt unter dem Begriff Demenz?
Dr. Jörg Hinner: Der Begriff Demenz ist ein Überbegriff für Erkrankungen, bei denen die geistige Leistungsfähigkeit und das Denkvermögen immer weiter beeinträchtigt wird. Das zeigt sich z.B. im Gedächtnisverlust, in Schwierigkeiten bei der Orientierung, bei der Wortfindung oder allgemeinen sprachlichen Fähigkeiten und der Veränderung der Persönlichkeit.
Petra Weber: Was unterscheidet die normale Vergesslichkeit im Alter von der Demenz?
Dr. Jörg Hinner: Vergesslichkeit ist noch lange keine Demenz. Nicht zu wissen, welches Datum oder welcher Wochentag ist, deutet noch nicht auf Demenz hin. Für alte Menschen ist es zum Beispiel gar nicht so wichtig, welcher Wochentag gerade ist und deshalb merken sie sich das dann auch nicht. Auch wer Dinge verlegt, muss nicht dement sein. Häufig handelt es sich dabei um „Konzentrationsblockaden“. Wer z.B. seinen Autoschlüssel nicht finden kann, war in dem Moment einfach nicht auf diesen Vorgang konzentriert. Wer gerade viele Dinge im Kopf hat, ist oft unkonzentriert und dann auch vergesslicher. Das Gehirn schützt sich so vor Überforderung und Reizüberflutung.
Petra Weber: Eine gewisse Vergesslichkeit oder „Verpeiltheit“ ist also noch normal. Ab wann ist die Vergesslichkeit ein Anzeichen für Demenz?
Dr. Jörg Hinner: Ein wesentlicher Unterschied bei Demenz ist, dass Dinge an unpassenden Orten gelegt oder vergessen werden. Wenn z.B. Wertsachen wie Schlüssel oder Geldbörsen im Kühlschrank oder Backofen liegen, kann dies ein Anzeichen einer beginnenden Demenz sein. Geschieht so etwas öfters und gibt es auch keinerlei Erinnerung daran, wie die betreffenden Dinge dort hingekommen sind, sollte dieses Symptom ernst genommen und abgeklärt werden.
Petra Weber: Was sind weitere typische Anzeichen für betreuende Pflegekräfte oder Angehörige, dass jemand dement wird?
Dr. Jörg Hinner: Ein klassisches Beispiel ist, wenn jemand innerhalb von kurzer Zeit immer wieder die gleiche Frage stellt, obwohl er die Antwort erhalten hat. Auch wenn sich die Betroffenen an Ereignisse, die vor wenigen Minuten stattgefunden haben, nicht mehr erinnern oder wenn nicht nur Details, sondern ganze Ereignisse vergessen werden. Dazu gehört, wenn sich die Betroffenen nicht mehr daran erinnern, dass der Pflegedienst da war. Auch wenn Verrichtungen des Alltags, wie z.B. Kaffeekochen nicht mehr ausgeführt werden können oder sich die Betroffenen in ihrer bekannten Umgebung nicht mehr auskennen. Dann finden sie z.B. den Supermarkt oder die Arztpraxis nicht mehr. Die Folge ist dann oft sozialer Rückzug aus Unsicherheit und aus Angst.
Wenn jemand hingegen sein Auto nicht mehr findet oder die gleiche Geschichte immer wieder erzählt, muss das nicht unbedingt auf Demenz hindeuten. Viele ältere Menschen sind einsam und erzählen dann ihren Bezugspersonen immer wieder von neuem, was ihnen gerade durch den Kopf geht.
Petra Weber: Wie gehe ich als Angehöriger oder auch als betreuende Pflegefachkraft vor, wenn ich den Verdacht habe, es handelt sich bereits um eine Demenz?
Dr. Jörg Hinner: Der erste Ansprechpartner ist der Hausarzt. Dieser überweist bei einem Verdacht an einen Neurologen. In Orten mit psychiatrischen Kliniken gibt es meist auch eine Gedächtnisambulanz, die dort angegliedert ist. Dort werden dann spezielle Tests durchgeführt. Es gibt heute gute Möglichkeiten der umfassenden Diagnostik für demenzielle Erkrankungen.
Petra Weber: Was ist zu tun, wenn sich der Demenz-Verdacht bestätigt und eine demenzielle Erkrankung diagnostiziert wird?
Dr. Jörg Hinner: Dann ist die Planung der Krankheitsphasen erforderlich. Dafür wird der Pflegegrad durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, den MDK, festgelegt. Die Antragsformulare bekommt man bei den Krankenkassen. Viele ambulante Pflegedienste bieten hier auch Unterstützung an. Der MDK vereinbart einen Termin zur Begutachtung. Dabei wird je nach Einschätzung des erforderlichen Unterstützungsbedarfs der Pflegegrad festgelegt. Je schwerer der Grad der Demenz ist, desto höher ist der Pflegegrad. Ist dieser durch den MDK bestätigt, können sich die Angehörigen an Beratungsstellen wenden. Die Beratungskosten werden dann von den Kassen übernommen. Beraten lassen kann man sich bei den Pflegestützpunkten, aber auch bei ambulanten Pflegediensten, die dann schon ganz praktisch zur Versorgung beraten können. Zwei Drittel aller Demenzerkrankten leben weiterhin zu Hause und werden von ihren Angehörigen betreut. Hier ist dann dringend anzuraten, dass sich pflegende Angehörige kompetente Unterstützung sichern. Gute Anlaufstellen für einen Austausch sind auch Selbsthilfegruppen.
Petra Weber: Welche professionellen Unterstützungsangebote gibt es für Menschen mit Demenz?
Dr. Jörg Hinner: Bei beginnender Demenz können Gedächtnisambulanzen besucht werden. Auch eine gute medikamentöse Einstellung, die den Fortschritt der Krankheit verzögern kann, ist wichtig. Ambulante Pflegedienste können bei der körperlichen Pflege, aber auch bei Einkäufen und der Haushaltsführung unterstützen. Pflegende Angehörige haben auch Anspruch auf Verhinderungspflege, wenn sie in Urlaub fahren. In vielen Gemeinden gibt es ehrenamtliche Unterstützungsangebote. Wenn die Demenz fortschreitet oder die Angehörigen die Pflege nicht mehr bewältigen können, gibt es auch spezielle Tagespflege-Angebote oder Wohngemeinschaften für Demente. Und natürlich bieten viele Pflegeheime auch spezielle Betreuungskonzepte für demenziell Erkrankte an. Hier ist wichtig, dass speziell ausgebildete Fachkräfte für Gerontopsychiatrie bei der Pflege und Betreuung mitwirken. Grundsätzlich ist es Angehörigen zu empfehlen, sich frühzeitig Unterstützung und Hilfe zu holen. Die Pflege von Menschen mit Demenz ist ein Marathon, kein Sprint. Da ist es wichtig, dass die Angehörigen auch auf sich selbst achten. Sonst sind sie irgendwann so am Ende ihrer Kräfte, dass sie die Pflege und Betreuung nicht mehr bewältigen können.
Petra Weber: Wie verläuft eine demenzielle Erkrankung typischerweise?
Dr. Jörg Hinner: Zunächst ist zu beachten, dass Demenz kein einheitliches Krankheitsbild darstellt. Eine Demenz ist erst einmal ein sogenanntes „klinisches Syndrom“. Damit wird eine Gruppe von Symptomen bezeichnet, die auf das Vorliegen einer chronischen Hirnerkrankung hinweisen. Und diese chronische Hirnerkrankung kann eben ganz unterschiedliche Ursachen haben. Außerdem können sich Verlauf und Symptomatik bei jedem Menschen mit Demenz erheblich unterscheiden. Zwar gibt es Gemeinsamkeiten, es lassen sich jedoch keine allgemeingültigen Aussagen für alle Betroffenen daraus ableiten, da es auch unterschiedliche Formen von Demenz gibt.
Petra Weber: Welche unterschiedlichen Formen der demenziellen Erkrankungen gibt es?
Dr. Jörg Hinner: Demenzielle Erkrankungen haben ganz unterschiedliche Krankheitsbilder. Bei mehr als der Hälfte aller demenziellen Erkrankungen handelt es sich um Alzheimer-Demenz. Ihre Ursache ist immer noch ungeklärt. Im Gehirn eines Menschen, der an Alzheimer-Demenz leidet, ist ein fortschreitender Abbau der Gehirnmasse zu erkennen. Nervenzellen und ihre Verbindungen sterben ab.
Die zweithäufigste Demenzform ist die vaskuläre, d.h. gefäßbedingte Demenz. Die Ursache liegt dabei in arteriosklerotischen Prozessen, d.h. an kleinen Gehirnarterien, die zu Durchblutungsstörungen führen. Das wird umgangssprachlich auch Arterienverkalkung genannt. Die betroffenen Nervenzellen sterben dabei ab. Die vaskuläre Demenz tritt fast immer plötzlich auf. Sie verläuft unregelmäßig und ist durch eine schrittweise Verringerung der kognitiven Fähigkeiten gekennzeichnet.
Alzheimer und vaskuläre Demenz treten häufig gemeinsam als sogenannte „gemischte Demenz“ auf. Diese beiden häufigsten Demenzformen sind primäre Demenzen. Das bedeutet, die demenzielle Erkrankung stellt dabei die Grunderkrankung dar. Primäre Demenzen sind irreversibel, also leider nicht mehr heilbar.
Die weiteren Demenzformen sind deutlich seltener und setzen sich aus anderen primären Demenzen und aus sekundären Demenzen zusammen. Eher seltene primäre Demenzen sind z. B. die Frontotemporale Demenz, Demenz bei Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung oder Lewy-Körperchen-Demenz.
Petra Weber: Was versteht man unter einer sekundären Demenz?
Dr. Jörg Hinner: Sekundäre Demenzen sind Folgeerscheinungen, die auf über 50 verschiedene Grunderkrankungen zurückgehen können. Diese Grunderkrankungen können z. B. Stoffwechselstörungen, Vitaminmangelzustände oder chronische Vergiftungserscheinungen durch Alkohol oder Medikamente sein. Die gute Nachricht ist, dass diese Grunderkrankungen behandelbar und sogar heilbar sind. Deshalb ist es ganz wichtig, sich bei jedem Verdacht auf ein demenzielles Syndrom möglichst frühzeitig untersuchen zu lassen.
Petra Weber: Dann kann man zusammenfassend sagen: Vergesslichkeit ist noch kein Zeichen für Demenz. Kommt es jedoch zu Orientierungslosigkeit und können Alltagsverrichtungen nicht mehr ausgeführt werden, ist eine Abklärung sehr wichtig. Bei der Diagnose Demenz sollten sich Angehörige unbedingt kompetent beraten lassen und sich auch frühzeitig Unterstützung holen, um ihre eigenen Kräfte zu schonen.
Dr. Jörg Hinner:
Ja, genau, das ist das Fazit.
Mai 2021